Phänomene
Privates aus der Geldbörse (dem Portemonnaie)
Über die Neigung vieler Leute,
Wildfremden Fotos von Weib, Kind, Haus und Hund zu präsentieren. Meine Mutter und auch Tante Hedi pflegten mir früher stets einzuschärfen,
man müsse auch im unsichtbaren Bereich untadelig angezogen sein. Gar
nicht mal aus hygienischen Gründen: Sondern für den Fall eines
Verkehrsunfalls oder einer mächtigen Feuersbrunst, eines Vulkanausbruchs oder einem
überraschenden Bergsturzes, wo man ohnmächtig ins
Krankenhaus käme und wildfremde Menschen würden sich dann entweder schlapp
lachen oder sich mit Grausen abwenden, wenn sie das Loch im Strumpf oder
den Fleck in der Unterhose entdeckten.
"Außen hui und innen
pfui" hieß das dann. Diese 'Schande' wollte man nicht über seine Familie
bringen.
Heute aber, heute in Zeiten in denen es anscheinend keine
schamhaft verborgenen körperlichen Geheimnisse mehr gibt, bekommt man,
jeder wird es mit ein wenig Nachdenken bestätigen, am
Strand, im Schwimmbad, in Gartenlokalen die Fettrollen, die Krampfadern, die Hammerzehen und Hallux valgus,
ja sämtliche Gebrechen werden einem ohne Scham entgegengestreckt.
Ach, und das mit den Dessous ist in diesen liberalen Zeiten
schon lange kein Geheimnis mehr. Ich sah zum Beispiel Unterhosen im
Military-Wüstentarn-Stil, wahrscheinlich Modell Kosovo, aber auch in Kardinalsrot. Leude, gude Laune ok!,
aber ästhetisch völlig daneben gegriffen.
Also, was
Leute heute entlarven würde im Falle von plötzlicher Ohnmacht, tragischem Bergsturz,
dramatischem Schiffsbruch wäre nicht das Loch im Strumpf, sondern ihre
Geldbörse.
Ich weiß nicht, aber vielleicht war es in einer
Warteschlage in einem Supermarkt. Jedenfalls stand vor mir eine Frau
mit einem beeindruckend dicken geöffneten Portemonnaie mit
vielen vielen Bonuskarten, ADAC-Mitgliedkarte, Fitness-Club-Karte,
Organspende-Ausweis, Kosmetik-Kundenkarte vom Reformhaus,
Klo-Coupons von den
Autobahnraststätten, Mitgliedsausweis des Heraldikvereins usw. Gebannt blickte ich auf eine
Aufnahme von einem schütteren, einäugigen Pudel. Ich war einem
Phänomen auf der Spur, erinnerte mich und sah genauer hin.
Was ich als Leidender im Wartezimmer eines Arztes,
netten Kellnern in Italien oder Frankreich, von
Zufallsbekanntschaften im fernen Ländern, von vornehmlich
Flugbegleiterinnen (DLH) auf der Crewrest-Bank, aber auch von
Kolleginnen in meiner Schule an Bildern vorgeführt bekommen habe, es schlägt das Fass
den Boden aus:
Da war die gesprächige Frau, deren Kinder
inzwischen 37 und 33 sind, doch im Portemonnaie trägt
sie auf ateliergefertigten 5,5 x 7,5 Hochglanzfotos den Computerspezialisten als Sechsjährigen mit
Marmeladenmäulchen und die Rechtsanwältin als Klein-Bärbel auf dem
Töpfchen . Das hat sie mir alles im Wartezimmer erzählt. Ich schwör
es!
Oder da war der 72-Jährige mit
dem schütteren Haarkranz, der mir ein Bild von seinem roten
Motorboot aus den 70er Jahren nebst damaliger Begleiterin
(wahrscheinlich war es die Schwiegertochter) geradezu aufdrängte.
Unvermittelt, aus dem Gespräch heraus bekamen wir, meine Frau musste
es sich ebenfalls anschauen, an einem Austernstand in
Montalivet
(das ist nördlich von Bordeaux) ein Foto von einem günstig gekauften
Grundstück auf Teneriffa gezeigt. Das Foto zeigte von Rand zu Rand
Zottelgras.
Oder da war das nette Ehepaar aus Castrop-Rauxel
in der Weinstube "Schönleber" in Oestrich. Wir erfuhren, dass auf
sie auf dem Campingplatz in Rüdesheim campierten. Wir mussten uns
unbedingt ein Foto ihres Campingmobils anschauen. Es war liebevoll
unterschrieben mit: "Unser erster Hymer auf dem
NSU-Zeltplatz
in Italien".
Weiterhin sah ich einen Rauhaardackelausstellungsgewinner.
Oder
Gastarbeiter bzw. Migranten (Eltern von Schülern/innen), die auf den
geeigneten Moment warteten um das immergleiche Foto herausholten:
"Mein Haus". Was durfte ich loben? Ein
Erdgeschossbau, darauf eine Betondecke mit anklagend empor
gestreckten Armier-Eisen, die rostend auf Baufortsetzung warten.
Oder einmal saßen wir im Garten des Weinhauses
Koegler in Eltville - man setzt sich im Rheingau dazu, "es iss so
schee gemühtlich" - da holte ein Mann aus seiner Brieftasche ein
Foto einer schmucken Immobilie heraus und bemerkte wehmütig: "Das
ist die Metzgerei in Bayern, in die ich beinahe geheiratet hätte".
Das ist nicht von Heinz Becker, ich schwör's, ich hab's erlebt.
Wiesbadener Kurier, dpa-Meldung, 14. Juli(!) 2009 "Nach
einer britischen Studie geben Finder verlorener Geldbörsen eher
zurück, wenn diese Bilder von kleinen Kindern enthalten. Auch Bilder
von jungen Hunden und Familienfotos wirken sich positiv auf die
Rückgabe-Moral aus."
Fazit: Fotos von kleinen Hunden machen
demnach Geldbörsenfinder weniger ehrlich als Babybilder, aber
immerhin ehrlicher als Spendenausweise. Also liebe Kollegin,
Ministrantinnen-Karte raus und ein olles Babyfoto rein.
Fortsetzung nächste Woche, Jahre:
Supermarkt-Pinnwände Das Gruppen-T-Shirt Serviettengebrauch nur
optional Zeitvernichtungsmaschinen wie Portale: "wer-kennt-wen"
oder Rückenschubbeln bei der Verabschiedung
|
Die heute 40-Jährige Tochter.
Ein Blick in die eigene Geldbörse. Ja, ganz bescheiden,
aber essentiell, die Knoblauch-Reibe. Sie wird weltweit anerkannt!
Zottelgras von Rand zu Rand!
Das ist die Metzgerei in Bayern, in die er beinahe geheiratet hätte.
Die Geldbörse zur
Kunst erhoben! Lederportemonnaie mit geschwärzten DM-Scheinen, Ottmar Hörl,
"Schwarzgeld" 1998 [...]
Geldbörse einer 'normalen' deutschen Hausfrau 2008: Für sämtliche
Eventualitäten, Notfälle gerüstet. Ich könnte jetzt auflisten, [...],
aber am meisten imponierte mir die abgelaufene Ministrantinnen-Karte.
[...]
|