Jürgen Feldpusch, von 1998 bis 2011 Lehrer an der
Werner-von-Siemens-Schule, Wiesbaden
Spurensuche: NS-Vergangenheit in Wiesbaden
oder "Geschichte ist nie zu Ende" Vorwort:
Die Generation meiner Eltern konnte ja nichts dafür, dass sie in diese
Zeit geboren wurde. Sie ist da hineingeschlittert, zum Teil, denn
sie wurden getäuscht, sie haben sich täuschen lassen von einer
teuflischen Propaganda.
Und jetzt
liegt über diese Generation meiner Eltern ein schwerer Vorwurf, von den
nur wenige ausgenommen sind. Damit geschieht vielen Unrecht.
Meine Eltern jedenfalls hatten nicht die Kraft, den Intellekt und das
Geld 1933 Deutschland zu verlassen.
November 2003
Vom ersten Tag ihrer Herrschaft, dem 30. Januar 1933, an leiteten die
Nationalsozialisten die gezielte Verfolgung der Juden ein, die schon
seit 1920 im Parteiprogramm angekündigt war: Ihm zufolge konnten Juden
nicht "Volksgenossen" sein, da sie nicht "deutschen
Blutes" waren. Es gab in Deutschland 526 000 Juden,
das waren 0,8 %
der Bevölkerung. Sie wurden bis zum Kriegsausbruch systematisch
entrechtet und zu Parias herabgedrückt.
Nach letzten Festlegungen auf der so genannten "Wannseekonferenz" vom
20. Januar 1942 wurde der organisierte Völkermord in Gang gesetzt und in
einer unvorstellbar menschenverachtenden Art (Holocaust, Shoa) ausgeführt.
Wiesbaden war über 250 Jahre mitgeprägt von jüdischen Mitbürger, die
hier lebten, religiöse Einrichtungen schufen, Häuser bauten und
Geschäfte und Unternehmen führten oder sich als Kurgäste hier
aufhielten.
Unterrichtsgang am 18. November 2003
Ein "Rundgang" mit der Klasse 10a der
Werner-von-Siemens-Schule an Orte der Gegenwart der Vergangenheit. Gut vorbereitet sind wir zu sieben Straßen, Plätzen und
Häusern gegangen, die uns etwas berichten über die
Vergangenheit unserer Stadt während der NS-Zeit.
Könnten diese Häuser reden, könnten manche auch von den schändlichsten Kapiteln der
Wiesbadener Stadtgeschichte berichten:
Das Landeshaus (1905 - 1907 erbaut) zum Beispiel, in dem das Amt für
Erb- und Rassenpflege und andere "Gaustellen" und Ämter
untergebracht war. In diesem Amt saßen die
Schreibtischtäter der Euthanasie und organisierten die Morde: Das heißt, die
Menschen, die geisteskrank waren, in der Nazisprache als
"Minderwertige" bezeichnet, wurden getötet. Zum Beispiel in Hadamar über
10 000 (zehntausend) Menschen.
Das Haus in der Alexandrastraße 6 - 8 war eines von insgesamt 42 so
genannter Judenhäusern. Im Frühjahr 1939 wurden mit dem Gesetz
über die 'Mietverhältnisse mit Juden' die Voraussetzungen für die
Zusammenlegung jüdischer Familien in "Judenhäusern"
geschaffen. Es handelte sich um Häuser, die deutschen Juden, zum
Beispiel die 17-Zimmer-Villa im Nerotal 46, ab 1939 enteignet wurden und
Jürgen Stroop (siehe weiter unten) als Wohnsitz diente.
In anderen Häusern wurden jüdische Mitbürger einquartiert, um sie von
der übrigen Bevölkerung zu isolieren. Sie wurden von der Gestapo
(Geheime Staatspolizei) ständig überwacht und so lange in diesen
Häusern untergebracht bis sie ab Oktober 1941 in die Arbeits- oder Vernichtungslager
transportiert wurden. Weitere Beschränkungen waren das Verbot von
Radios und ein Ausgehverbot - Im Sommer ab 21 Uhr und im Winter ab 20
Uhr.
Ebenso musste ab dem 01.09.1941 jeder über sechs Jahre alte
Jude in der Öffentlichkeit den "Judenstern" tragen.
Oder die Lessingstraße 16¹ (Ehemaliges Landratsamt erbaut 1902/03, City-Ost). In
diesem Haus fanden die Prügel-Exzesse der Wiesbadener SA statt.
Gewerkschafter, Sozialdemokraten, Kommunisten wurden in den
Kellerräumen verhört, verprügelt und misshandelt. zu 1 Im
zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude zerstört und in den 50-er Jahren
durch einen Neubau ersetzt.
Des Weiteren liefen wir zur Uhlandstraße 5 (Eine der großen
Villen des Viertels, die 1903 erbaut wurde. Heute im Besitz des
Baustofftycoon Knauf.).
Dieses Haus war von
November 1943 bis März 1945 Dienstsitz des Höheren SS und
Polizeiführers Generalleutnant der Waffen-SS Jürgen
(bis zu seinem 46zigsten Lebensjahr Josef?) Stroop. Stroop, genau dieser Stroop
(als SS-Brigadeführer) war es, der das
'Warschauer Getto'
liquidierte.
Gleichsam belohnt für seine Taten in Warschau wird er SS-
und Polizeiführer des Oberabschnitts "Rhein-Westmark". Sein
"Herrschaftsgebiet" reicht von Lothringen im Westen bis Frankfurt am
Main und von Kaiserslautern bis nach Oberhessen. Welche Verbrechen
und viele Menschenleben dieser Schreibtischtäter in seiner Wiesbadener
Zeit auf dem Gewissen hat, wird sich wohl nie mehr feststellen lassen.
Jedenfalls gibt es im Stadtarchiv keine Unterlagen mehr.
Stroop wird am 08. Mai 1945 von den Amerikanern in Süddeutschland
gefasst und 1947 in Polen hingerichtet.
Hier irrte ich und ich
muss mich dank einer Mail vom 13. Juli 2009 von Herrn S. korrigieren: Stroop
wurde nicht 1947 hingerichtet, sondern "von den Amerikanern im Rahmen
der Dachauer Prozesse 1947 zum Tode verurteilet und an Polen
ausgeliefert. Hier wird er 1951 zum Tode verurteilt und am 06. März 1952
durch den Strang hingerichtet." Auf diesem Wege, danke für die
Berichtigung.
Weiter führte unserer Gang zur Paulinenstraße 7, 9 und 11. Das so genannte
"Weiße Haus" (erbaut 1904 - 1907 im Auftrag des
Sektfabrikanten Söhnlein-Papst) wurde 1938 an die Reichsregierung
verkauft. In ihm waren seit dieser Zeit Militärdienststellen untergebracht.
Im Haus
Nummer 9 saß die Verwaltung der Außenstelle Wiesbaden der Geheimen
Staatspolizei Frankfurt am Main, deren Aufgabe unter anderem die
Verfolgung aller Gegner des NS-Regimes war.
In diesem Haus wurden
Personen, welche die Nazis als ihre Gegner ansahen, verhört. Hier kam es
ebenfalls zu Folterungen und Misshandlungen. Das Gebäude wurde bei dem
Großangriff (dem schwersten) auf Wiesbaden vom 02. zum 03. Februar
1945, also kurz vor Kriegsende(!), von Bomben
zerstört.
Das Haus Nummer 11 (1899 errichtete Etagenvilla) war seit 1940 Sitz des Inspektors
der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes der SS.
Der letzte Punkt unseres Rundganges war die Synagoge der liberalen
Jüdischen Reformgemeinde: Am Michelsberg 17
Der prächtige Bau, eingeweiht 1869, trug orientalisierende Stilelemente. Er war Ausdruck des
neuen Selbstbewusstseins der Kultusgemeinde und äußeres Zeichen der
erlangten rechtlichen Gleichstellung ihrer Mitglieder.
Die
Gleichstellung erlangten die Juden in Preußen1812 im Rahmen der
Preußischen Reformen¹ durch ein Edikt.
1866 wurden Kurhessen, Herzogtum Nassau und die Freie Stadt Frankfurt in
das Königreich Preußen eingegliedert. Diese Rechts- und
Verwaltungsvorschriften wurden übernommen. Vollständig beseitigt wurden
die rechtlichen Diskriminierungen gegenüber den Juden allerdings erst
1869.
zu 1 Als im März 1812
die Juden in Preußen aufgrund der von Friedrich Wilhelm III., von Gottes
Gnaden, König von Preußen usw. erlassenen
Emanzipationsgesetze so genannte "feste Familiennamen" annehmen mussten,
waren sie der Willkür oder auch der Überforderung der preußischen
Verwaltungsbeamten ausgesetzt. Nur so lassen sich die zum Teil
verwunderlichen Nachnamen erklären: Sonnenschein, Morgentau, Mandelbaum,
Hirschland, Rosenkranz, Weinstein, Berggrün, Fromm, Zuckerberg oder Reich usw.
Die Synagoge wurde am
10. November 1938, morgens um 4 Uhr, von SA-Männern der SA-Standarte 80
mit einer brennenden Flüssigkeit angezündet. Nachdem der Brand
gelöscht worden war, kam zwischen sechs und sieben Uhr ein weiterer
SA-Trupp, zerhackte die ganze Inneneinrichtung, trug alles Brennbare im
Innenraum zusammen und zündete es an.
Will jemand fragen, wie
einem danach zumute war? Nun, mir bleibt als Reaktion auf diese Barbarei
nur eine sprachliche Drastik, die ich lieber nicht veröffentliche bzw.
ein ungläubiges, fassungsloses Kopfschütteln.
Dieser Tag war auch geprägt durch den Aktionstag gegen die
Einsparpolitik der hessischen Landesregierung. Die Innenstadt, ganz
anders als sonst, war durchmischt von ca. 45 000 (!) (fünfundvierzig)
tausend wohl organisierten, zivilisierten Andersdenkenden und deutlich
präsent, aber unangespannten Ordnungskräften. Wir mittendrin, immerhin dreißig junge
Leute, wurden bei unserem Rundgang von den Ordnungskräften immer wieder einmal argwöhnisch
belugt, beobachtet oder austariert.
Es war schon was los in "Kies- Spieß-", sorry Wiesbaden.
Wie in der Einleitung oben genannt,
begannen die Nationalsozialisten sofort nach der so genannten Machtergreifung
1933 Gesetze zu erlassen, welche die jüdische Bevölkerung
diskreditierte. Zum Beispiel mit dem Gesetz gegen die "Überfremdung
deutscher Schulen" vom 25.04.1933. Im Stadtarchiv in Wiesbaden
gibt es noch Dokumente, aus denen ersichtlich ist, wie die Durchführung
zur Erfassung nicht arischer Schüler von der Schulverwaltung in
Wiesbaden angeordnet worden ist. Unter anderem gibt es ein Blatt,
auf dem der Rektor der Mittelschule an der Rheinstraße²
die nicht
arischen Schüler, wie angeordnet, alphabetisch auflistet.
zu 2
die heutige Werner-von-Siemens-Schule [...]
siehe auch: Aktives Museum
Spiegelgasse, Wiesbaden
Stolpersteine in Wiesbaden
Diese Stolpersteine, derzeit über 300 vor 140 Häusern allein in Wiesbaden, sollen an die
Deportation von Juden, Menschen aus dem Widerstand, Homosexuelle,
Euthanasieopfer und bestimmte religiöse und ethnische Gruppen erinnern.
Es sind von dem Kölner Künstler Gunter Demnig verlegte mit Namen,
Geburts- und Schicksalsdaten in Messingblech verkleidete Steine vor dem
letzten freiwillig gewählten Wohnhaus dieser Menschen.
Juni 2010; Schlachthoframpe - Mahnmal in der Nähe des Wiesbadener
Hauptbahnhofes Ein fotorealistisches Schwarz-Weiß-Bild erinnert heute daran, was 1942
an Ort und Stelle passierte.
Juli 2011 - Unterrichtsgang mit der
Klasse 10c der Werner-von-Siemens-Schule
"Amt für Erb- und Rassenpflege" im Landeshaus. Die beamteten
Schreibtischtäter, die in Hessen und Nassau den organisierten
Ablauf der "Euthanasie" zu verantworteten hatten, arbeiteten in
diesem Gebäude.
Warum macht man so etwas? Diese Art von Erinnerungskultur, diese
Rituale der Erinnerung (01. Januar 1933, ...,
08. Mai 1945, ... , diese Ansprachen an Jahrestagen, jedes Jahr diese
Fahrt zu Gedenkstätten (..., Februar 2011, Weimar/Buchenwald), dieser
Unterrichtsgang, ...
Mein Gott, was mutet man diesen jungen Leuten alles zu.
Ich weiß nicht, ob ich sie erreicht habe.
Was ich möchte? Ich möchte, dass sie zurückblicken in der Geschichte
und nach vorne schauen und sie dadurch sich sensibilisieren für
undemokratische Formen. Von rechts, von links, auch von religiösen
Formierungen.
Wir schreiben den November 2011 - Informationsmöglichkeiten,
Informationswilligkeit: Es soll keiner sagen, er hätte von nichts
gewusst.
Zur gewärtigen Debatte vier Webseiten:
Diese Seite zum Beispiel:
"http://www.pi-news.net"
bietet jenen ein Forum (bis zu 20 000 Aufrufe pro Tag derzeit!), die den
Koran verbieten lassen und muslimische Verbandsvertreter zum Beispiel
"zu einem Pilzessen einladen" wollen. "Diese Seite lebt vom Ressentiment
gegen alles, was islamisch sein könnte. Es ist eines der
erfolgreichsten Weblogs in Deutschland." Frankfurter Allgemeine
Sonntagszeitung vom 21.10.2007 Wer noch Zweifel hat, wo das
Ressentiment zu Hause ist, der muss jedenfalls nicht weitersuchen.
Nein, diese Webadresse war mir
bisher nicht bekannt, sondern sie wurde mir von meiner Schülerin Ülüsü n¹
(Name geändert),
die Schwester von Hüzün zugetragen.
Danke von dieser Stelle aus. Interessiert,
neugierig und wissbegierig wie ich bin, schaute ich mir die Webseite "http://www.diewahrereligion.de"
an. Na ja, sieht man sich einige Videos des Konvertiten Pierre
Vogel [...] an, so stellt man erst einmal fest, dass er ziemlich schlechte
Vergleiche zieht und zum Beispiel in einem Video in Anwesenheit von
Nichtmuslimen Muslimen demonstrativ beglückwünscht Muslime zu sein,
weil alle anderen am jüngsten Tag in der Hölle landen, weil sie den
falschen Glauben haben. Also, ich weiß nicht, so ein toller Prediger
erscheint mir dieser Herr nicht zu sein. Ich unterstelle, dass er vom
Verfassungsschutz beobachtet wird.
zu 1
Es war Anfang 1926, dass der damalige türkische Staatschef Kemal Atatürk an einem Kongress teilnahm, bei dem beschlossen wurde,
auf das arabische Schriftsystem zu verzichten und ein einheitliches lateinischstämmiges Alphabet für die Turksprachen
einzuführen. Die monatelangen Verhandlungen dauerten Atatürk zu lange,
worauf er die Sache persönlich in die Hand nahm. In einer einzigen
Nacht, so will es die Legende, entwarf er die neue Schrift. Aus dem
Deutschen kam das Ü dazu, aus dem Französischen die Cedille (Ç).
Bundeszentrale für politische Bildung:
Mitten in der Öffentlichkeit -
Journalisten als Opfer von Andrea Röpke.
Andrea Röpke publiziert seit Anfang der 1990er-Jahre zum Bereich
Neonazismus und ist insbesondere durch ihre Insider-Reportagen aus
diesem Bereich bekannt.
Und "http://www.henryk-broder.com/"
- Henryk Marcin Broder, ist ein deutscher Journalist und Buchautor. Beide Eltern waren Überlebende von Konzentrationslagern.
Broder beschäftigt sich bevorzugt mit der deutschen Politik und Israel.
[...]
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Das Landeshaus Nach 1945 war das Landeshaus Sitz der
amerikanischen Militärregierung von "Groß-Hessen".
Timo B., Christian K.
Alexandrastraße 6 - 8
Jennifer R., Milan K. - Erich Kästner.
Lessingstraße 16 Jennifer R., Luca K., Christian S., Maria M.
Uhlandstraße 5, Wir wohnen übrigens nebenan.
Uhlandstraße 5
Das Haus gehören heute dem Baustoff-"Tycoon"
Knauf.
Paulinenstraße 7
Marlena D., Eduard M., Daniel S.
Synagoge der Jüdischen Reformgemeinde
Michelsberg/Informationstafel
Sandra W.,
Jennifer R., Regina M., Geraldine H.
Diese "Stolpersteine" wurden am 13. Oktober 2009 an der
Wilhelmstraße 42 für Dorothea und Leopold Katzenstein verlegt.
November 2010 Die Gedenkstätte am Standort der ehemaligen Wiesbadener
Synagoge nimmt Gestalt an. Insgesamt werden 1512 Namen
Wiesbadener Bürger zu lesen sein, die Opfer des Holocausts wurden.
Bereich der ehemaligen Synagoge am Michelsberg
Ja, doch, nachdenkliche Gesichter gab es!
Prügelkeller der SA in der Lessingstraße 16, City-Ost
Auch das so genannte "Weiße Haus" in der Paulinenstraße 7 war eine der Stationen beim
Rundgang. Es beherbergte militärische Dienststellen. Heute im
Privatbesitz.
Das Haus Paulinenstraße 11 war Dienstsitz des Inspektors der
Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes der SS.
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